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Gestern Adolescence zu Ende gesehen, die Serie hat nur vier Teile. Vorgestern die realistische Inhaftierung, samt Untersuchung, samt keiner nimmt Rücksicht auf die Angehörigen, dass sie zusätzlich traumatisiert werden ist entweder Absicht oder zumindest ein Kollateralschaden, der hingenommen wird. Das fehlende Unrechtsbewusstsein des Täters, aber auch das ganze Umfeld. Sowohl die Freunde, die vermutlich verstärkend auf die Tat eingewirkt haben, als auch die Freundin des Opfers, die so authentisch wütend ist. Die Überforderung der Schule. Das grausam Kindliche der Schüler:innen. All das war sowohl fesselnd als auch verstörend und so nah an der Wirklichkeit, dass es teilweise schwer auszuhalten war. Gestern dann also das Kammerspiel mit der Gutachterin, gerade zum Ende hin, wenn man sieht, wie sie um Fassung ringt, ruft diese Folge viele Fragen auf, öffnet Diskussionsräume, denn es ging ja um Männlichkeitsbilder, es ging um Macht, um Vaterbilder, aber eben auch um diesen Jähzorn einerseits und diese unbändige Sehnsucht gemocht zu werden des Täters. Überhaupt ist diese Serie sehr sehr gut darin, Dinge zu zeigen, statt sie zu sagen, Räume zu öffnen, statt Antworten zu liefern mit denen man die Frage zu den Akten legen kann. Der letzte Teil war gerade am Ende für mich sehr erschütternd. Die Schwester sagt: „Aber es ist Jamie, er gehört zu uns.“ Obwohl alles so schwer geworden ist, obwohl jedes einzelne Familienmitglied mitverantwortlich gemacht wird für die Tat, oder jedenfalls verspottet, gemobbt. Es wird gezeigt, wie die Eltern ringen mit dem Unverständnis, wie sie sich immer wieder den zermürbenden Fragen aussetzen, was sie falsch gemacht, wo sie zu wenig getan haben. Und dann weint der Vater am Ende auf dem Bett seines Sohnes und legt schließlich dessen Teddy sehr zärtlich und fürsorglich unter die Bettdecke und küsst ihn mit den Worten: „Es tut mir leid“. Eine Szene von der ich mich erst erholen musste.
Ich lese weiter in „Geliebte Mutter Canim Annem” von Cigdem Akyol. Eine Zeitlang hatte ich es als etwas zäh empfunden, aber es wird besser, nimmt Fahrt auf.
Mit diesen beiden sehr eindringlichen, sehr schmerzhaften Eindrücken bin ich also schlafen gegangen. Und heute morgen erinnere ich mich, wie die Mutter in Adolescence sagt: Wir müssen das hier überleben. Und, keine Ahnung, was noch dazu beigetragen hat, vielleicht die Zerrissenheit der Tochter in diesem Roman, zwischen dem Anerkennen, was ihre Mutter für sie getan hat und der Anklage, was sie ihr angetan hat. Jedenfalls kommt jetzt manchmal der Gedanke, dass ich auch als Mutter die Perspektive umdrehen darf, wenigstens literarisch, dass ich ein Recht darauf habe aus meiner Perspektive zu schreiben, mich in den Mittelpunkt zu stellen. Der Gedanke fühlt sich befreiend an und ziemlich revolutionär.